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rohe Auszüge aus meinem Journal 1997:
Reto Lanzendörfer Oederlin AG Über
Sinne und Unsinn bis zum Wahnsinn Sehr geehrte Frau Kaelin Vielen Dank für die zwei identischen Briefe. Beide sind angekommen.
Einer prompt zu Hause in Oberrohrdorf, den anderen, eingeschrieben, konnte ich
erst nach Tagen auf der Post in Obersiggenthal gegen Unterschrift in Empfang
nehmen. Sollten Sie wieder einmal so wichtige, eilige Mitteilungen für mich
haben, senden Sie diese doch uneingeschrieben nach Oberrohrdorf oder noch
besser: deponieren Sie sie in meinem „Oederlin- Briefkasten“. Da ich nun
weiss, dass eingeschriebene Briefe nur Kopien bereits erhaltener Sendungen
sind, werde ich mir in Zukunft den Gang auf die Post ersparen. Nun will ich mich zum Inhalt Ihres Schreibens äussern und bilde es zu
diesem Zweck etwas verkleinert hier ab: |
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Zu ihrem Brief: Sie sind also „etwas erstaunt“. Schön, dass Sie noch staunen können.
Viele „abgebrühte“ Menschen treffe ich hier, die erstaunt nichts mehr, nein
sie erklären alles. Ihre Sinne sind so verstümmelt, dass sie nichts mehr erschüttern
kann. Ich versuche gerade meine Sinne wieder zu öffnen, so wie sie als Kind
waren, offen, zum Empfinden, zum Erleben, zum Geniessen. Ich erinnere mich,
wie ich die Bilder im Wohnzimmer meiner Eltern betrachtet habe, war fasziniert
von den Pinselstrichen und von den gespachtelten Flächen. Erst später sah ich
die Figuren, wie sie gemeint sind. Sobald wir die Dinge erklären können, verschliessen wir unsere Sinne
und schauen nicht mehr hin. Ist es nicht Aufgabe eines Künstlers, den Menschen in Staunen zu
versetzen, ihm die Sinne wieder zu öffnen, ihn auf etwas aufmerksam zu machen?
Täglich gehen wir an interessanten Dingen vorbei, und weil wir sie benennen
können, studieren wir sie nicht mehr. Ein Ding, eine Vision oder ein Geräusch
ist solange spannend, bis wir eine Erklärung dafür haben. Zurück zum Brief: Es scheint als hätte ich gleich zwei Sinne „verschiedener
Mitmieter“ überbeansprucht, und zwar den Sehsinn und auch den Geruchssinn. Für
die Verletzung des Sehsinns fühle ich mich nicht verantwortlich. Auch ich
schaue gerne durch Ritzen in fremde Ateliers, ob nicht irgend ein Reiz für
meine Augen zu entdecken ist, niemand aber zwingt mich dazu. Frau Kaelin, bitte senden Sie mir doch eine Liste mit Namen und Adressen
dieser „verschiedenen Mitmieter“, es scheinen ja gleich mehrere zu sein,
damit ich mich persönlich bei ihnen entschuldigen kann. Da es
„verschiedene“ sind, brauche ich alle, um zu sehen, inwiefern sie sich
unterscheiden. Das Studium des Menschen ist Teil meiner Arbeit und mich
interessiert alles was mit Menschen zu tun hat. Es tut mir ja aufrichtig leid, wenn meine „Mitmieter“ nur den Geruch
meiner Kocherei riechen dürfen, selbstverständlich sind alle zum Essen
eingeladen, auf Voranmeldung und höchstens zwei Personen aufs Mal, da ich nur
beschränkt Material habe. Zu meinem „unüblichen“ Verhalten, wie Sie es nennen, möchte ich
folgendes sagen: Ich bin in einer breiten Ausbildung, die noch den Rest meines Lebens
beanspruchen wird. Zum Studium des Menschen gehört auch die Mimik.
Beispielsweise die Miene des Erstaunens, die Sie offenbar in meinem Zusammenhang
gleich mehrere Male aufgesetzt haben, jedes Mal wenn einer dieser
verschiedenen Spitzel, verzeihen Sie den Versprecher, „verschiedenen
Mitmieter“ bei Ihnen vorsprach. Ich stelle mir Ihr Gesicht vor mit einer
hochgezogenen Augenbraue und offenem Mund, bei welchem die Mundwinkel leicht
nach aussen gezogen werden. Die Miene des Erstaunens ist ein aus drei einfachen
Mienen zusammengesetzter Ausdruck: Aufmerksamkeit, Verwunderung und
Belustigung. Mehr zu diesem speziellen Thema ein andermal. Neben malen, zeichnen, modellieren, fotografieren und anderen diversen
Gestaltungsaufgaben, habe ich noch viele Bücher zum Lesen. Körperliche Bewegung ist ein weiterer Teil meiner Ausbildung. Ich mache
täglich Sport, im Merker-Areal, im Wald und hier im Atelier. Ich lerne, mich zu
wehren, trainiere hart und schwitze viel. Klar, wasche ich meine Wäsche hier an
Ort und Stelle. Dazu kommen diverse Accessoires zum Reinigen, oder würden Sie sich
als Aktmodell auf ein verschmutztes Leintuch setzen? Was wohl für Gerüche emporstiegen, wenn Sie mir das Waschen verböten? Gerüche existieren überall, jeder Mensch, ja sogar jeder Raum hat
seinen Geruch. Das grosse Treppenhaus riecht nach Giesserei, das WC nach altem
Tabak und gewisse Räume offenbar nach meinem Braten (ich esse kein Fleisch).
Leider wurde ich nie in die betreffenden Räume eingeladen, um zu riechen. So
konnte ich nicht wissen wie schlimm die Situation ist. Bestimmt hätte ich
schneller gehandelt. Die beiden erwähnten Probleme sind nun provisorisch gelöst. Ich
erstellte aus Plastik und Karton eine Geruchs- und Sichtsperre, und zwar auf der
Grenze zu den Büroräumlichkeiten der Firma Oederlin. Als endgültige Lösung
empfehle ich jedoch eine Mauer aus Kalksandstein verputzt, welche sicher dicht wäre
und zusätzlich den Schall erheblich dämmte. Kein Mensch funktioniert ohne Nahrung. Ein Auto braucht Benzin, ich
brauche Essen, also koche ich. Mir das kochen zu verbieten, fände ich eine schlechte Lösung. Kennen
Sie die Geschichte vom „Suppenkaspar“? Auch ich würde noch dünner und könnte
vor Hunger bald nicht mehr arbeiten, und nach Tagen fände man mich verwesend
irgendwo zwischen Atelier und Gang. Ich weiss nicht, ob meine Ausdünstung
in diesem Zustand angenehmer wäre als diejenige von Zwiebeln. Zusätzlich zum Malen mit Acrylfarben werde ich auch einige Proben mit
Ölfarben machen, vielleicht gelingt es mir, mit den Lösungsmitteln der Farben,
den Geruch der Zwiebeln zu neutralisieren. Dass man seine „Mitmieter“ irgendwie wahrnimmt, ist normal. Wie man
den Musiker hört, so riecht man halt den Maler. Natürlich mache ich auch
Versuche, durch Varianten von Fensteröffnungen die Luft in umgekehrter
Richtung ziehen zu lassen. Es ist jedoch schwierig und fraglich, sich der Natur
zu widersetzen. Ich verspreche Ihnen und meinen „Mitmietern", das Kochen auf ein
wirkliches Minimum zu beschränken, so wie Sie es in Ihrem Brief an mich
vorschlagen. Ich werde wirklich nur noch kochen, wenn ich Hunger habe, und die
Zwiebeln werde ich durch Knoblauch ersetzen, so wie es mir Herr Meier
empfohlen hat. Ich könnte ganz aufs Kochen verzichten, bräuchte aber Unterstützung: |
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Ich danke Ihnen, Frau Kaelin, dass auch ich mich zum Thema „Sinne“
äussern durfte. Zum Geruchssinn gehört die Nase, zum Sehsinn das Auge, zum Hörsinn
das Ohr, zum Geschmackssinn die Zunge und zum Tastsinn die Haut. Wie ist es
mit dem Wahnsinn? Jedenfalls haben wir mehr Sinne als wir denken, und wir sollten Sorge
tragen zu allen, auch zu unseren „Mitmietern“. Ich könnte mein Klavier von zuhause mitbringen und meine Band wieder
zusammentrommeln. Meine „Mitmieter“ würden sich nicht mehr an Gerüchen
oder Einblicken stören, denn sie hätten ein neues Problem. „Das grösste
Problem aller Probleme ist, kein Problem zu haben!“ (Jeff Siegrist) Wenn die Sonne intensiv scheint, schütze ich meine Augen mit einer
Sonnenbrille. An einem lauten Rockkonzert stopfe ich Watte in meine Ohren, um
mein Gehör nicht zu zerstören, und wenn mein lieber „Mitmieter“ mich nicht
riechen kann, rate ich ihm, eine Wäscheklammer über die Nase zu klemmen. Es
gibt auch Heftpflaster, welche die Nase öffnen. Man kann sie zusammendrücken,
dann schliessen sie die Flügel. Sie sind bestimmt angenehmer zu tragen und
weniger auffällig. Liebe Frau Kaelin, bitte senden Sie doch je eine Kopie dieses Schreibens
an sämtliche „verschiedene Mitmieter“, damit auch sie meine Sicht
erfahren. Diese Zeilen entstanden beim Erstellen meiner Kartonwand. Ich brauchte
sie nur noch aufzuschreiben. Ich wurde als Maler geboren, wer weiss, vielleicht
sterbe ich als Schriftsteller.
Mit freundlichen Grüssen auch an meine „verschiedenen Mitmieter“ Oberrohrdorf, 1. Juni 1997
Reto Lanzendörfer
„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, |