Reto Lanzendörfer / Leben / Journal 1997

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rohe Auszüge aus meinem Journal 1997: 

Reto Lanzendörfer
Geissraistrasse l2
5452 Oberrohrdorf                                                 

Oederlin AG
Frau O. Kaelin
Landstr. 2
5415 Rieden
 

Über Sinne und Unsinn bis zum Wahnsinn

Sehr geehrte Frau Kaelin

Vielen Dank für die zwei identischen Briefe. Beide sind angekommen. Einer prompt zu Hause in Oberrohr­dorf, den anderen, eingeschrieben, konnte ich erst nach Tagen auf der Post in Obersiggenthal gegen Un­terschrift in Empfang nehmen. Sollten Sie wieder einmal so wichtige, eilige Mitteilungen für mich haben, senden Sie diese doch uneingeschrieben nach Oberrohrdorf oder noch besser: deponieren Sie sie in meinem „Oederlin- Brief­kasten“. Da ich nun weiss, dass eingeschriebene Briefe nur Kopien bereits er­haltener Sendungen sind, werde ich mir in Zukunft den Gang auf die Post ersparen.

Nun will ich mich zum Inhalt Ihres Schreibens äussern und bilde es zu diesem Zweck etwas verkleinert hier ab:

Zu ihrem Brief:

Sie sind also „etwas erstaunt“. Schön, dass Sie noch staunen können. Viele „abgebrühte“ Menschen treffe ich hier, die erstaunt nichts mehr, nein sie erklären alles. Ihre Sinne sind so verstümmelt, dass sie nichts mehr erschüttern kann. Ich versuche gerade meine Sinne wieder zu öffnen, so wie sie als Kind waren, offen, zum Empfin­den, zum Erleben, zum Geniessen. Ich erinnere mich, wie ich die Bilder im Wohnzim­mer meiner Eltern betrachtet habe, war fasziniert von den Pinselstrichen und von den gespachtelten Flächen. Erst später sah ich die Figuren, wie sie gemeint sind.

Sobald wir die Dinge erklären können, verschliessen wir unsere Sinne und schauen nicht mehr hin.

Ist es nicht Aufgabe eines Künstlers, den Menschen in Staunen zu versetzen, ihm die Sinne wieder zu öffnen, ihn auf etwas aufmerksam zu machen? Täglich gehen wir an in­teressanten Dingen vorbei, und weil wir sie benen­nen können, studieren wir sie nicht mehr. Ein Ding, eine Vision oder ein Geräusch ist solange spannend, bis wir eine Er­klärung dafür haben.

Zurück zum Brief:

Es scheint als hätte ich gleich zwei Sinne „verschiedener Mitmieter“ überbeansprucht, und zwar den Sehsinn und auch den Geruchssinn. Für die Verletzung des Sehsinns fühle ich mich nicht verantwortlich. Auch ich schaue gerne durch Ritzen in fremde Ateliers, ob nicht irgend ein Reiz für meine Augen zu entdecken ist, niemand aber zwingt mich dazu.

Frau Kaelin, bitte senden Sie mir doch eine Liste mit Namen und Adressen dieser „verschiedenen Mitmieter“, es scheinen ja gleich mehrere zu sein, damit ich mich per­sönlich bei ihnen entschuldigen kann. Da es „verschiedene“ sind, brauche ich alle, um zu sehen, inwiefern sie sich unterscheiden. Das Studium des Men­schen ist Teil meiner Arbeit und mich interessiert alles was mit Menschen zu tun hat.

Es tut mir ja aufrichtig leid, wenn meine „Mitmieter“ nur den Geruch meiner Kocherei riechen dürfen, selbstver­ständlich sind alle zum Essen eingeladen, auf Voranmeldung und höchstens zwei Personen aufs Mal, da ich nur beschränkt Material habe.

Zu meinem „unüblichen“ Verhalten, wie Sie es nennen, möchte ich folgendes sagen:

Ich bin in einer breiten Ausbildung, die noch den Rest meines Lebens beanspruchen wird. Zum Studium des Menschen gehört auch die Mimik. Beispielsweise die Miene des Erstaunens, die Sie offenbar in meinem Zusam­menhang gleich mehrere Male aufge­setzt haben, jedes Mal wenn einer dieser verschiedenen Spitzel, verzeihen Sie den Ver­sprecher, „verschiedenen Mitmieter“ bei Ihnen vorsprach. Ich stelle mir Ihr Gesicht vor mit einer hochgezogenen Augenbraue und offenem Mund, bei welchem die Mund­winkel leicht nach aussen gezogen werden. Die Miene des Erstaunens ist ein aus drei einfachen Mienen zusammengesetzter Ausdruck: Aufmerk­samkeit, Verwunderung und Belustigung. Mehr zu diesem speziellen Thema ein andermal.

Neben malen, zeichnen, modellieren, fotografieren und anderen diversen Gestaltungsaufgaben, habe ich noch viele Bücher zum Lesen.

Körperliche Bewegung ist ein weiterer Teil meiner Ausbildung. Ich mache täglich Sport, im Merker-Areal, im Wald und hier im Atelier. Ich lerne, mich zu wehren, trainiere hart und schwitze viel. Klar, wasche ich meine Wäsche hier an Ort und Stelle.

Dazu kommen diverse Acces­soires zum Reinigen, oder würden Sie sich als Aktmodell auf ein verschmutztes Leintuch setzen?

Was wohl für Gerüche emporstiegen, wenn Sie mir das Waschen verböten?

Gerüche existieren überall, jeder Mensch, ja sogar jeder Raum hat seinen Geruch. Das grosse Treppenhaus riecht nach Giesserei, das WC nach altem Tabak und gewisse Räume offenbar nach meinem Braten (ich esse kein Fleisch). Leider wurde ich nie in die betreffenden Räume eingeladen, um zu riechen. So konnte ich nicht wissen wie schlimm die Situation ist. Bestimmt hätte ich schneller gehan­delt.

Die beiden erwähnten Probleme sind nun provisorisch gelöst. Ich erstellte aus Plastik und Karton eine Geruchs- und Sichtsperre, und zwar auf der Grenze zu den Büroräum­lichkeiten der Firma Oederlin. Als endgültige Lö­sung empfehle ich jedoch eine Mauer aus Kalksandstein verputzt, welche sicher dicht wäre und zusätzlich den Schall erheblich dämmte.

Kein Mensch funktioniert ohne Nahrung. Ein Auto braucht Benzin, ich brauche Essen, also koche ich.

Mir das kochen zu verbieten, fände ich eine schlechte Lösung. Kennen Sie die Ge­schichte vom „Suppenkaspar“? Auch ich würde noch dünner und könnte vor Hunger bald nicht mehr arbeiten, und nach Tagen fände man mich verwesend irgendwo zwi­schen Atelier und Gang. Ich weiss nicht, ob meine Ausdün­stung in diesem Zustand an­genehmer wäre als diejenige von Zwiebeln.

Zusätzlich zum Malen mit Acrylfarben werde ich auch einige Proben mit Ölfarben machen, vielleicht gelingt es mir, mit den Lösungsmitteln der Farben, den Geruch der Zwiebeln zu neutralisieren.

Dass man seine „Mitmieter“ irgendwie wahrnimmt, ist normal. Wie man den Musiker hört, so riecht man halt den Maler. Natürlich mache ich auch Versuche, durch Varian­ten von Fensteröffnungen die Luft in umgekehr­ter Richtung ziehen zu lassen. Es ist jedoch schwierig und fraglich, sich der Natur zu widersetzen.

Ich verspreche Ihnen und meinen „Mitmietern", das Kochen auf ein wirkliches Minimum zu beschränken, so wie Sie es in Ihrem Brief an mich vorschlagen. Ich werde wirklich nur noch kochen, wenn ich Hunger habe, und die Zwiebeln werde ich durch Knob­lauch ersetzen, so wie es mir Herr Meier empfohlen hat.

Ich könnte ganz aufs Kochen verzichten, bräuchte aber Unterstützung:

Ich danke Ihnen, Frau Kaelin, dass auch ich mich zum Thema „Sinne“ äussern durfte. Zum Geruchs­sinn gehört die Nase, zum Sehsinn das Auge, zum Hörsinn das Ohr, zum Ge­schmackssinn die Zunge und zum Tastsinn die Haut. Wie ist es mit dem Wahnsinn?

Jedenfalls haben wir mehr Sinne als wir denken, und wir sollten Sorge tragen zu allen, auch zu unseren „Mitmietern“.

Ich könnte mein Klavier von zuhause mitbringen und meine Band wieder zusammen­trommeln. Meine „Mitmieter“ würden sich nicht mehr an Gerüchen oder Einblic­ken stören, denn sie hätten ein neues Problem. „Das grösste Problem aller Probleme ist, kein Problem zu haben!“ (Jeff Siegrist)

Wenn die Sonne intensiv scheint, schütze ich meine Augen mit einer Sonnenbrille. An einem lauten Rockkon­zert stopfe ich Watte in meine Ohren, um mein Gehör nicht zu zerstören, und wenn mein lieber „Mitmieter“ mich nicht riechen kann, rate ich ihm, eine Wäscheklammer über die Nase zu klemmen. Es gibt auch Heft­pflaster, welche die Nase öffnen. Man kann sie zusammendrücken, dann schliessen sie die Flügel. Sie sind bestimmt angenehmer zu tragen und weniger auffällig.

Liebe Frau Kaelin, bitte senden Sie doch je eine Kopie dieses Schreibens an sämtliche „verschiedene Mitmie­ter“, damit auch sie meine Sicht erfahren.

Diese Zeilen entstanden beim Erstellen meiner Kartonwand. Ich brauchte sie nur noch aufzuschreiben. Ich wurde als Maler geboren, wer weiss, vielleicht sterbe ich als Schriftsteller.

 

Mit freundlichen Grüssen auch an meine „verschiedenen Mitmieter“

Oberrohrdorf, 1. Juni 1997     Reto Lanzendörfer

 

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben,
wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“
(deutsches Sprichwort)

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